Dialogue

Simpl-Tangente-Pop-Ubu-Krokodil

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SIMPL – Erste Standortbestimmung

Im H-Quadrat in Mannheim gründeten 1955 die „singende und pfeifende Wirtin“ Rica Corell eine musikalisch-literarische Unterhaltungsstätte nach dem Vorbild des „Schwabinger Brettl“ – der „Simplicissimus“ oder SIMPL genannt. Für die Gestaltung maßgeblich verantwortlich: KARL PETER „Charly“ MULLER, der damit seine erste von mehreren Wirkungsstätten einweihen konnte. Auf der Bühne standen in diesen Tagen u. a. Evelyn Künneke, Helen Vita sowie eine gewisse Zarah Leander.

TANGENTE – Kaub, Kokoschka & Konkretisten

In Karlsruhe wuchs am 26. Januar 1962 ein völlig neues Kulturkonzept heran. Hervorgegangen aus dem ehemaligen politischen Kabarett „Bügelbrett“ (Hannelore Kaub). Karl Peter Muller präsentierte erstmals ein Amalgam aus Literatur, Fotografie, Musik und Malerei und eröffnete mit einer eigenen Ausstellung und der Mitwirkung eines der erfolgreichsten Gesangsduos ihrer Zeit Esther & Abi Ofarim die TANGENTE.

„Das hintere Zimmer war mit Weißblech ausgelegt und an der Decke drehte sich ein Blaulicht“, erinnert sich der Türsteher Horst Amelang. „Meine Harley-Davidson stand da drin, und immer, wenn der gleichnamige Titel von Brigitte Bardot lief, dann knatterte auch das Motorrad!“

Hoch oben in der Adlerstraße 62 wohnte und arbeitete KPM. Für ihn war das alles eine Einheit. Kaum verwunderlich deshalb auch diese Geschichte: In der TANGENTE wurde eines Tages Gerüste aufgestellt und ein riesiges Matratzenlager darauf errichtet. Bei einem sechstägigen Fastnachts-Marathon konnten sich die müden Gäste dort oben erholen. Und weil als Club geführt, unterlag sie keinen Sperrzeiten. So rückten nach 1 Uhr morgens denn auch die Wirte der Stadt an.

Muller war als Galerist auch für das kulturelle Programm aller TANGENTEN mitverantwortlich. „Ich fand die Idee toll und hab’ mir gesagt: Saufen tust du gern, Gesellschaft hast du gern, diskutieren tust du gern, und mit Künstlern zu verhandeln, diese Auseinandersetzungen, diese Konfrontation, das hat mich schon immer gereizt.“

Unter anderem stellten die Gruppe der Konkretisten ebenso aus wie CoBrA, eine der wichtigsten Künstlergruppen des Informel und Tachismus. Prominente Vertreter: Asger Jorn und Friedrich Reich an der Stolpe.

„Wir haben die tollsten Dinge gemacht – sogar Kokoschka ausgestellt! Kokoschka in dieser kleinen Studentenkneipe!“, so Muller weiter. Bei dessen Vernissage bemerkte Oskar Kokoschka erfreut: „So wünsche ich mir mehr Galerien; dass ich ohne Schwierigkeiten meinen Whisky bekomme.“

POP – Ein Frosch an der Decke, eine Ikone an der Wand

Auf einmal hatte Heidelberg ein Lokal, das eine einzige Skulptur war. Wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass mit KPM und Prof. Dave Lauer (Peter Haese) zwei Künstlerpersönlichkeiten für dessen Gestaltung verantwortlich zeichneten. Als Macher und Betreiber: die Gastronomen Kaub & Kuffler, unter deren Regie das POP 1962 seine Türen neu eröffnete.

Begrüßt wurde der Besucher von einer Ikone der Pop Art: Marilyn Monroe als Tryptichon an der Wand – übergroß und unübersehbar. An der Decke hingen eine Collage von Stanzresten aus der Kupplungsproduktion und ein Gemenge von Schalldämpfern. Pasta und Vino inmitten eines Gesamtkunstwerkes.

„Wo hängt schon ein Oldtimer an der Decke?… und dann noch mit Reifen nach oben – Pop Art im POP.  Die „In-Kneipe“ der VIP’s wurde unter Denkmalschutz gestellt.” Soweit die Schlagzeilen der RNZ vom 15.6.2000 (Karl-Horst Möhl).

UBU – Der König, die Künstler und ein Klavier, das von oben kommt

Im Jahr ihrer Revolte wird er für sie gegründet: der legendäre Club UBU. Das Buch „Neue Restaurants“ beschreibt ihn als internationales architektonisches Highlight. Einmal mehr bricht KPM mit allen gesellschaftlichen Konventionen, Kunst und Kommunikation, Inspiration und Unterhaltung.

„1968 steht vor der Tür. Die Dinge sind in Bewegung geraten. In Karlsruhe erblickt einer der anspruchsvollsten und legendärsten Clubs dieser Zeit das Licht der Nacht: das UBU.

Charly und Erika Muller besichtigen das Objekt in der Karlstraße 6 und machen Nägel mit Köpfen. Oben drüber sitzt die Studentenverbindung Frankonia. Links daneben hat noch das Bundesverfassungsgericht seinen Sitz. So rückt das Paar, um das sich viele Karlsruher Künstler und Intellektuelle scharen, seine kulturelle Plattform weg vom Rand des Dörfles mitten hinein ins Herz der Stadt und setzt sich direkt vor die Nase der Etablierten. Was teilweise auf Ablehnung stößt bei der wohlanständigen Bürgerlichkeit. Aber auch Personen, denen man das auf den ersten Blick nicht zugetraut hätte, erkennen, welches Geschenk ihnen und der Stadt gemacht wird. Dr. Ernst Benda, CDU-Innenminister und ab 1971 Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat ein Herz für das UBU.

Am 8. Dezember 1967 wird eröffnet. Es ist überfüllt und B. B. King, den man als Musiker verpflichtet hatte, kommt kaum hinein. Das Klavier hängt an der Decke und wird zu den Konzerten heruntergelassen. Viel mehr noch als in der Tangente liegt der Fokus nun auf Ausstellungen und Performances. Jazzsessions, Kabarett und literarischen Lesungen. Alles ist möglich.“

Historiker Stefan Kirstätter in seinem Manuskript über die Karlsruher Nachtszene.

Vom Huhn zum Hoden

Mutter Ubu: „Schreiße!“ Vater Ubu: „Ich habe Hunger. Ich will mal in dieses Vögelchen beißen. Ich glaube, das ist ein Huhn.“ Mutter Ubu: „Was machst du denn, du Unglücksrabe? Was sollen jetzt unsere Gäste essen?“ König Ubu hängt dabei an der Decke und lacht: „Das Kalb!“ (Alfred Jarry: „König Ubu“, uraufgeführt 1896 in Paris). Einen Bogen zum Namenspatron des Klubs schlägt der Künstler Daniel Spoerri. Mit seiner Eat-Art-Performance setzt er sofort Maßstäbe und verfeinert die kulinarische Botschaft des schrägen Königs. Eine Aufführung, so grotesk wie das Theaterstück.

Ein schweizer Salat aus krabbelnden Ameisen

Erika Muller: „Für Spoerris Vernissage musste ich im Elsass einkaufen – 7 Kilo Stierhoden und 14 Pfund lebende Ameisen. Die Bilder vom König Ubu hatten wir uns ausgeliehen. Das Lokal war brechend voll. Im Keller hatte Spoerri eine Notküche eingerichtet. Über Mikrofon annoncierte er von dort aus den Gästen seine geheimnisvollen Delikatessen. Zuerst sollten alle Frauen runterkommen, dann die Männer. Das Horsd’œuvre wurde an der Bar gereicht. Erst später stellte sich heraus, was die hungrigen Besucher vertilgt hatten – einen Salat aus Ameisen. Anschließend gab es gegrillte Heuschrecken mit etwas Salz & Pfeffer sowie ein paar andere kleine Schweinereien; das Ganze mit Baguette und Wein flankiert.

Spoerri brutzelte sein Proteinmenü in drei Pfannen parallel mit viel Knoblauch. Als die ersten Damen pappsatt wieder nach oben kamen, waren sie begeistert. Jetzt genoss Spoerri seinen Auftritt in vollen Zügen; mit schelmischem Blick eröffnete er den Gästen per Lautsprecher, was sie da gerade verspeist hatten: die schönsten Stierhoden aus der Region. An den Gesichtern konnten wir ablesen, wie mulmig sich manch einer fühlte. Dringend riefen die ersten nach einem Schnaps.“

Blaulicht & Beamtentum

„Ubu Roi ist eine Spießergroteske, die auf Krawall gebürstet ist. Was passt besser, will man 1967 einen Club gegen den Strich führen und das in einer Stadt, die sich gerade aufmacht, ihren historischen Kern abzureißen? Drei bis vier Bombendrohungen laufen in den frühen 70ern ein. Die Künstler, die Muller in die Stadt holt, lesen sich wie ein Who’s Who des damaligen Jahrzehnts. Erika und Karl Peter Muller haben es geschafft: Das UBU funktioniert.

1972 kann Muller eine Galerie in der Schillerstraße einrichten: Kunst verbindet sich mit Intellekt, Intellekt mit Musik. Man geht weit über das hinaus, was in der Tangente begonnen wurde. Gleichwohl ist das UBU ein Club – ein Club, der läuft.“

Publikumsmagnet KROKODIL Stars auf der Bühne - Kunst unterm Dach.

Die Two-in-One-Man-Show – Charly Müller im und über dem KROKODIL in Karlsruhe

Typisch Müller: Café, Restaurant, Jazzkeller, Biergarten und Einkaufspassage sind ihm einfach nicht genug – da muss schon noch ein Platz für seine Kunst geschaffen werden. Gemeinsam mit den Architekten Gernot Bayne und Bernd Loeper macht er „das Kroko“ zu einem neuen Szenetreff und setzt damit sein Konzept von Kunst + Gastronomie + Kultur im Herzen von Karlsruhe stringent fort.

„Das Lokal ist groß und trägt den traditionsreichen Namen des Gasthauses am Ludwigsplatz, in dem sich abwechselnd die Nazis und Kommunisten tummelten, später die Franzosen und die Amerikaner. Die Einteilung des Parterres ist geblieben, nur dass aus dem früheren „Hochzeitszimmer“ das Café wurde und aus dem „Jägerzimmer“ der Abendbereich. Was auffällt seit der Wiedereröffnung 1976: die Wände hängen voller Bilder.“ (KIK)

Der neue Publikumsmagnet für die Kulturszene wird mit Freund Alexis Korner eröffnet. Nach und nach kommen sie alle – Musiker, Schauspieler, Literaten und andere Größen ihrer Zeit: Marianne Faithful, Max Frisch, Peter Herbolzheimer, Burkhard Driest, Hans-Dieter Hüsch, Tony Sheridan, Helen Schneider, Supercharge, Benny Waters, Günter Wallraff …

„Wenn unten im Kroko die Beleuchtung ausgeht, geht Charly Müller nach oben und widmet sich seiner eigentlichen Leidenschaft – dem Malen. Ein Maler, Poet und Bildhauer, der sich rastlos berauscht am Spiel mit den Farben. Bis um fünf Uhr morgens gestaltet er riesige Collagen, meist in weiß. Anfangs Gräser, Blumen und Stoffe, die er auf die Leinwand klebte und mit Dispersionsfarbe übermalte und besprühte – heute sind es Tierkadaver, ausgehölte Schädel eines Rindes oder zwei Vögel überkreuz. Aus diesen Grundelementen formt er Bilder, die von einer eigenartig, verhaltenen Schönheit sind.“ (KIK)

1981 erhielt KPM den Weinbrennerpreis der Stadt. Noch heute profitiert Karlsruhe von Müllers „Umbaumaßnahmen“ rund um den Ludwigsplatz. Hier pulsiert seither das pralle Leben. Damit sorgte er nicht nur für eine Beruhigung des Straßenverkehrs im Zentrum, sondern brachte auch eine entspanntere Lebensart und südländisches Flair in die nordbadische Metropole.

So mancher hat Charly Müller vieles zu verdanken. Er war Wegbegleiter einer neuen Kneipenkultur, ein früher „Eventmanager“ und Förderer junger Talente. Nicht immer zu seinem Nutzen: Falsche Freunde, Geschäftspartner, die ihre eigenen Ziele verfolgten und die Liebe zu Gin & Tonic führten ihn zunehmend in die innere Verzweiflung. Am Ende standen ein Offenbarungseid und der finanzielle Ruin im Jahr 1985. Übrig blieb ein einziger Scherbenhaufen, der zu seinem totalen Zusammenbruch führte. Muller ließ die Vergangenheit hinter sich; kehrte seinen Freunden den Rücken, verließ die Stadt und zog als Nomade rastlos durch die Lande.

Der Kneipier war Geschichte. Er legte den ihm fortan verhassten Vornamen „Charly“ ab, um unter dem Namen seiner Kindheit als Karl Muller nichts anderes als Kunst zu machen. Er stand einmal mehr wieder auf, indem er sich auf seine Ursprünge besann: die Geburtsstunde der AKADEMISCHE WERKSTÄTTEN.